Kapitel 28: Die erste Nacht

 

Die Matratze ist viel weicher als zu Hause. Durchgelegen, denke ich, trifft es genauer. Dafür liegt das Kissen steif unter meinem Kopf, die kleinen Bällchen der Kunststofffüllung drücken sich in Knubbeln durch den dünnen Bezug.

 

Mein Blick fällt auf die beiden blassgelben Handtücher, die ich nach dem Duschen zum Trocknen über Türklinke und Fernseher geworfen habe. Etwas anderes zum Aufhängen habe ich in dem kleinen Zimmer nicht gefunden. Mein Rucksack steht nahezu unausgepackt unterhalb des Fensters. Es gibt keinen Schrank, nur eine schmale Kommode in der einen Ecke und eine Kleiderstange mit drei Bügeln in der anderen. Ich kann mich einfach nicht dazu durchringen, meine Sachen auf das minimalistische Mobiliar zu verteilen. Die erste Nacht in Praia de Faro: Ich liege allein in meinem Zimmer und fühle mich fehl am Platz.

 

Als hätte ich mir diese Szenerie nur ausgeliehen, um festzustellen: Gefällt mir nicht. 

 

Airbnb Zimmer Praia de Faro, Portugal
Neun Quadratmeter in Praia de Faro

 

Mein Verstand nutzt die volle Breitseite meiner Stimmung und flüstert fragend: Das ist es also, was du wolltest? Dafür hast du dich aufgemacht? An seinem Unterton kann ich hören, dass er bereit ist, mir die Antwort gleich mitzuliefern. Ein klares, lautes Nicht dein Ernst?! Wie hatte ich nur mein gemütliches Zuhause, mein sicheres Umfeld gegen diese in die Jahre gekommene Bleibe eintauschen können? Ich könnte zurückzischen: Natürlich habe ich mir das auch schöner vorgestellt. Auf den Fotos sah alles neuer, sauberer, ordentlicher aus. Vermutlich stammen sie aus der Zeit der Neueröffnung, irgendwann vor zehn Jahren. Oder vor hundert.

 

Jetzt habe ich also statt achtzig Quadratmeter, gute Lage in Elbnähe, ein Zimmer mit neun Quadratmetern samt Gemeinschaftsdusche und -küche. Aber geht es im Moment wirklich darum? Mich in Vergleichen zu verlieren, was ich zu Hause habe und hier nicht? Ich suche doch nicht die Kopie davon, oder? Und sagt nicht schon ein Sprichwort: „Des Glückes Tod ist der Vergleich“? Finge ich an, alles genau zu überprüfen, wäre es nur logisch und konsequent, wenn mein Fluchtmodus anspränge: Das musst du keine Sekunde hier aushalten. Wähle einen anderen Ort, such‘ dir ein schöneres Zuhause. 

 

Immerhin sorgt Freddy, mein holländischer Mitbewohner, dafür, dass ich mich in dieser abgestandenen Behausung nicht ganz so verloren fühle. Ich treffe ihn kurz nach dem Ankommen in der gemeinschaftlichen Küche. Er stammt aus Amsterdam und ist seit gut zwei Monaten allein mit einem alten Mercedes-Bus quer durch Europa unterwegs. In Praia de Faro macht er seit drei Wochen Station und freut sich, nach einer wohl recht einsamen Zeit jemanden zum Reden zu haben. Es braucht nicht einmal eine halbe Stunde, und ich sitze bei Freddy im Bus auf dem Weg in den nächsten Supermarkt, der sich auf dem Festland befindet.

 

auf dem Weg, Straße, Dämmerung
Dank Freddy auf dem Weg zum Supermercado auf dem Festland.

 

Es ist die einzige Chance für mich, heute überhaupt noch zu etwas Essbarem zu kommen, wie mir Freddy erklärt. Auf der Insel ist um diese Zeit längst alles geschlossen, obwohl es noch nicht mal sieben Uhr ist. Die wenigen Kneipen dürfen aufgrund der aktuellen Bestimmungen noch nicht öffnen. Und die beiden Tante-Emma-Läden, die es hier gibt, schließen bereits gegen fünf. Ich bin Freddy dankbar, dass er mir anbietet, mich mitzunehmen.

 

Zu Fuß hätte ich heute keine Chance mehr, denn es sind gut sechs Kilometer Wegstrecke. Mit seiner hilfsbereiten Art bewahrt mich Freddy nicht nur davor, hungrig zu Bett zu gehen, sondern vor allem auch vorm Alleinsein am ersten Abend. 

 

 

Unterwegs legt er einen spontanen Stopp am Strand ein, weil er mir unbedingt das Farbenspiel des Sonnenuntergangs zeigen will. „Ich kann mich einfach nicht daran sattsehen“, meint er. Ich kann ihn gut verstehen, als wir im Sand sitzen und still zusehen, wie die Sonne am Horizont ins dunkle Blau des Meeres eintaucht.

 

Als wir vom Einkauf zurück sind, lassen wir uns mit frischem Brot, Käse, Oliven und einem ersten kalten portugiesischen Bier auf dem Balkon nieder. Ungeplant und gut fühlt sich das an.

 

 

Freddy erzählt von seiner Tour von Holland über Frankreich, Spanien bis nach Portugal, über eisige Nächte im Bus, das Alleinsein, die Auswirkungen des Lockdowns unterwegs. Nach drei Monaten sehnt er sich nach Familie und will deshalb in den nächsten Tagen zurück nach Spanien, um seinen Bruder zu besuchen, der dort mit Großfamilie lebt. Bei diesen Worten werden seine wettergegerbten Gesichtszüge weicher.

 

Als ich kurz vor Mitternacht in meinem Bett liege, beginnt ein ziemlich hartnäckiger Gedanke an mir zu nagen: Dass ich mich falsch eingeschätzt haben könnte. Dass ich gar nicht gelassen genug bin, um dermaßen heruntergekommene Quartiere, enge, spartanische Zimmer und muffige Bäder zu tolerieren. Vielleicht komme ich hier schneller an meine Grenzen des Nicht-mehr-Aushalten-Wollens als gedacht? Mehr als einmal bin ich kurz davor, die Airbnb App zu öffnen, um nach einem neuen Quartier in der Nähe Ausschau zu halten. Ich lasse es bleiben.

 

Praia de Faro, Blick zur Lagune, Airbnb Zimmer
Der Blick vom Gemeinschaftsbalkon in Richtung Lagune versöhnt mich ein wenig mit dem Rest ;-)

 

Ich weiß nicht einmal, ob mir ein anderes, schöneres Zuhause im Moment wirklich helfen würde. Ob es mir das Gefühl der Fremde von den Schultern nehmen würde. Fast bezweifle ich es. Dieser Tag war voller neuer Eindrücke, Gefühle, Emotionen. Ich bin müde und will jetzt nur noch schlafen. Träge in den Kissen liegend, erinnere ich mich an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit gelesen habe: Ein alter Indianer wird von einem Reservat in ein anderes umgesiedelt. Still sitzt er während der Fahrt im Auto auf dem Rücksitz, bittet aber unterwegs immer wieder, kurz anzuhalten. Jedes Mal steigt er aus, kniet sich auf den Boden und spricht leise vor sich hin. Irgendwann fragt ihn der Fahrer, was er da ständig tut. Er antwortet, er hole seine Seele nach, Stück für Stück. Für sie sei Tempo einhundert zu schnell.

 

Ich bin heute mit einer Boeing 737 angereist, Höchstgeschwindigkeit über neunhundert Stundenkilometer, ich habe also keine Ahnung, wo meine Seele gerade noch hängt. Hier scheint sie jedenfalls nicht angekommen zu sein. Vielleicht reist sie in der dieser Nacht nach. Vielleicht braucht sie auch länger. Ein Grund mehr, vorerst hier zu bleiben, damit sie mich finden kann.

 

Mein letzter Gedanke, bevor mir die Augen zufallen: Lass mich bitte nicht zu lange allein!

 



Ihr wollt meine Arbeit als Autorin unterstützen?

 

Das geht ganz einfach:

 

"Für die Kaffeekasse" - 5 Euro: paypal.me/britgloss/5 

"Aber bitte mit Sahne" - 10 Euro: paypal.me/britgloss/10

oder ein frei wählbarer Betrag: paypal.me/britgloss

 

  Dankeschön ;-)

 

 


Katze neugierig auf dem Tisch
Auch schon neugierig, wie es weitergeht? © Uwe Diesel

Auszug aus dem 29. Kapitel

 

Das blecherne Knallen einer Tür holt mich aus dem Schlaf. 6.15 Uhr, wie ich mit fassungslosem Blick auf die Uhr feststelle. Und das am ersten Morgen meiner arbeitsfreien Auszeit in Portugal. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Selbst der Himmel vor meinem Fenster ist noch im Dämmermodus.

 

Den Geräuschen nach ist es Freddy, der um diese frühe Stunde eine erstaunliche Betriebsamkeit an den Tag legt und mich gnadenlos daran teilhaben lässt. Freddy ist Yogi und gibt während seiner Reise ab und an Yoga-Kurse online. Vielleicht ist er ja der Meinung, dass das frühe Aufstehen nicht nur ihm guttut, sondern auch der blassen Deutschen, die da gestern Abend angereist ist?

 

 

Neugierig, wie dieser Morgen weitergeht?

 

Am kommenden Freitag gibt's das komplette Kapitel ;-)

 

 

 

Kommentare: 0