Der Tag der Abreise ist da. Wie oft habe ich ihn mir in Gedanken vorgestellt. Mich gefragt, wie ich mich fühlen würde. Aufgeregt? Voller Vorfreude? Traurig, weil der Abschied naht?
Als ich jetzt kurz nach sechs Uhr morgens hellwach und mit klopfendem Herzen in meinen Kissen liege, stelle ich fest: Es ist eine Mischung aus allem. Für mehr als einhundert Tage werde ich nicht in meinem Bett schlafen. Ich werde heute die Wohnungstür hinter mir zuziehen und erst im Juli, wenn der Sommer längst Einzug gehalten hat, wieder zurück sein. Für einen Moment bleibe ich noch liegen. Will ein paar Minuten für mich sein, bevor der Tag den Takt vorgibt. Neben dem Spiegel steht mein Rucksack. Alles ist gepackt.
Etwas später stehe ich auf, gehe duschen, ziehe mich an und checke ein letztes Mal meine Reiseunterlagen: Ticket, Ausweis und den, zum Glück!, negativen PCR-Test. Aus dem Zimmer meines Sohnes höre ich Stimmen. Mein Großer und seine Freundin sind ebenfalls wach. Wenig später steht er mit verwuscheltem Haar in der Küche und schmiert mir Brote für die Reise. Was für eine liebevolle Geste. Ich muss schmunzeln bei dem Gedanken, wie oft ich dort am Küchentisch gestanden habe, Schnitten schmierend für Schule, Wandertag, Urlaub. So ändern sich die Zeiten.
An diesem Morgen läuft alles entspannt ineinander, jeder weiß, was er zu tun hat und tun will, als würden wir einer geheimen Choreografie folgen. Kurz nach acht sind wir startklar. Ich stehe an der Wohnungstür, schaue ein letztes Mal zurück und sage „Tschüss Wohnung, bis bald!“, dann ziehe ich die Tür hinter mir zu. Ein bisschen warte ich auf das große Gefühl oder zumindest irgendeine Emotion. Aber so richtig will nichts auftauchen, und ich hüte mich, tiefer zu bohren. Der Tag ist noch jung, für großes Kino würde noch genügend Zeit sein.
Wir sind eine gute halbe Stunde unterwegs, als es zu schneien beginnt. Nur wenige Kilometer weiter wird das Schneetreiben so dicht, dass man meinen könnte, wir wären auf dem Weg in den Winterurlaub. Dabei schreiben wir Mitte März. Wir sind nicht unterwegs in die Alpen, sondern in Richtung Flughafen Berlin-Brandenburg. Von hier aus geht mein Flug nach Faro mit Zwischenstopp in Amsterdam.
Auf dem holländischen Flughafen habe ich nur eine knappe Stunde für den Umstieg und bete insgeheim, dass die Gates für Ankunft und Abflug nicht zu weit voneinander entfernt liegen, damit ich meinen Anschluss erwische. Andernfalls könnte ich mich schon einmal mit dem Gedanken vertraut machen, für vermutlich viel Geld einen neuen Flug zu buchen oder gleich auf dem Flughafen zu übernachten. Vielleicht wäre Amsterdam-Schiphol eine Option für meine Auszeit? Klimatisiert, weltoffen, ständig wechselnde Fluggäste. Es ist ja nicht verkehrt, einen Plan B in der Tasche zu haben.
Erst einmal bin ich froh, dass wir trotz der weißen Pracht, die uns unterwegs überrascht hat, rechtzeitig in Berlin ankommen.
Die Schlange am Check-in Schalter ist überschaubar. Oberflächlich betrachtet herrscht gepflegte Trägheit bei den Fluggästen. Bei genauerem Hinschauen blitzt allerdings doch die eine oder andere Nervosität hervor: Unauffällig wird beim Vorder- oder Hintermann geschaut, welche Zettel, Ausweise, Papiere dieser in Händen hält, um sie mit den eigenen Unterlagen abzugleichen. Kein Wunder bei dem Durcheinander an Reisebestimmungen. Es genügt in Zeiten von Corona eben nicht mehr, einfach nur einen Pass oder Ausweis vorzulegen, der lang genug gültig ist. Vielmehr geht es jetzt um Tests und Schnelltest mit der richtigen Gültigkeit. Die Corona-Regeln haben sich in den vergangenen Wochen immer wieder verändert, und ich bin mir nicht sicher, ob ich mit meinem Wissen und meinen Dokumenten wirklich auf dem aktuellen Stand bin. Als ich an der Reihe bin, nimmt die freundliche Flughafenangestellte meinen Ausweis samt PCR-Test entgegen, mustert letzteren kurz und meint dann: „Ihren Schnelltest, bitte.“
Ich ringe noch mit meiner Enttäuschung darüber, wie wenig sie meinen 85 Euro teuren PCR-Test würdigt, bevor ich realisiere, was sie soeben gesagt hat. Binnen Bruchteilen von Sekunden legt mein Puls an Schlagzahl zu, mir wird warm unter meiner Jacke. Auf den Seiten der Fluggesellschaft hatte ich mich x-fach vergewissert, dass bei einem reinen Transfer in Amsterdam kein zusätzlicher Schnelltest nötig war. Doch wer weiß, vielleicht hatten sich binnen vierundzwanzig Stunden ja die Spielregeln geändert? Was im Klartext hieße, ich dürfte ohne Schnelltest nicht mitspielen. In diesem Fall nicht mitfliegen. Wirklich witzig.
Ich erkläre ihr, dass ich nur zum Transfer nach Amsterdam reise, um dann direkt nach Portugal weiterzufliegen. Am liebsten würde ich die Finger zum Schwur heben und ihr hoch und heilig versprechen, dass ich den Flughafen auch ganz bestimmt nicht verlassen würde. Als könnte sie meine Gedanken lesen, mustert sie mich kurz, dreht sich dann mit ihrem Stuhl um die halbe Achse und ruft ihrer Kollegin etwas zu. Ich bete derweil, dass deren Antwort zu meinen Gunsten ausfällt.
Mein Sohn und seine Freundin beobachten das Geschehen mit gebührendem Abstand. Ich bin froh, sie noch in meiner Nähe zu wissen, als könnte mir Rückendeckung aus der Heimat weiterhelfen. Immerhin: Sollte hier kein Durchkommen sein, könnte ich mich mit ihnen gleich wieder auf den Heimweg machen. Wenn wir uns ein bisschen beeilten, würde ich es sogar noch zur gemeinsamen Mittagspause mit meinen Kollegen schaffen.
Schwungvoll dreht sich in diesem Moment die Beamtin hinter dem Schalter wieder zu mir um und sagt leichthin: „Ok.“ Dann tippt sie energisch auf der Tastatur ihres Computers herum und schiebt mir kurz darauf meine Bordkarten für die Reise unter der Glasscheibe durch. „Guten Flug“, wünscht sie mit einem kurzen Lächeln und fixiert mit den Augen bereits den nächsten Fluggast hinter mir.
„Danke“, sage ich überrascht und lächle ebenfalls. Es ist mehr ein Reflex. Ich bin noch viel zu sehr damit beschäftigt, die Unmengen an Adrenalin abzubauen, die meinen Körper in den vergangenen Minuten geflutet haben. Erst beim Blick auf meine Bordkarten realisiere ich: Die Reise kann in der Tat beginnen. Bevor es jedoch losgeht, heißt es Abschied nehmen.
Und als hätten sie nur auf diesen einen Augenblick gewartet, sind sie jetzt da, die großen Gefühle.
Auszug aus dem 27. Kapitel
Vielleicht endet meine Reise schon, bevor sie richtig angefangen hat: am Flughafen von Faro, am Schalter für die Einreise. Weil all die Papiere und Tests, die ich bei mir trage, keine Gnade finden würden vor den Augen des portugiesischen Beamten hinter der Scheibe. Ebenso wenig Gnade, wie für die Einreiseunterlagen des älteren Pärchens, dass vor mir in der Schlange steht: fassungslos, ratlos. Ich könnte die Heimreise gleich gemeinsam mit ihnen antreten. Kein Wunder also, dass gerade auch meine bis eben sicher geglaubte Auszeit im Land meiner Wahl gehörig ins Wanken kommt.
Dabei verlief meine Tour bislang erstaunlich problemlos. Amsterdam entpuppte sich als äußerst entspannter Ort für meine Zwischenlandung, mit angenehm kurzen Wegen zwischen Ankunft und Weiterreise. Mein Flug nach Faro war pünktlich gestartet und ebenso punktgenau gelandet. Bis eben war ich mir sicher, dass alles nur noch eine reine Formsache ist, schließlich war mein Ausweis samt PCR-Test schon x-fach kontrolliert worden. Bislang ohne Beanstandungen. Was also sollte jetzt noch schiefgehen?
Nächsten Freitag lest Ihr das komplette Kapitel!
Ankommen auf portugiesischem Boden ;-)