Kapitel 50: Rituale im Auszeit-Land

 

Die kleinen Stapel mit Viertel-Dollar-Münzen vor mir schmelzen wie Butter, erhitzt auf höchster Flamme. Ich halte den Telefonhörer krampfhaft in der Linken, während meine Rechte im Minutentakt die Geldstücke in den Schlitz des Münztelefons schiebt. Ungefähr im selben Takt fragen mich meine Eltern am anderen Ende der Leitung, ob ich noch genügend Kleingeld habe. 

 

Portugal Faro Flughafen Telefon, Auszeit ü50
Telefon"zelle" am Flughafen in Faro - 2021 wohlgemerkt

 

Ich reise Anfang der Neunziger Jahre zum ersten Mal nach Amerika, meine Eltern tausende Kilometer entfernt zu Hause auf der anderen Seite des Atlantiks. Das Telefonieren in diesen Zeiten ist kein Kinderspiel. Und preiswert schon gar nicht. Selbst mit einer Hand voller Münzen ist nie mehr als maximal fünf Minuten Zeit, um mit der Familie zumindest die elementaren Fakten auszutauschen: Bist du gut angekommen, hast du genug Geld und genug zum Essen, wann geht dein Rückflug. Dreihundert Sekunden. Selten war das Verrinnen der Zeit so spürbar, wie in diesen Momenten. Als hätte sich das Loch der Sanduhr gedehnt.

 

Und heute? Sorgen Flatrate, Skype und unzählige Messanger-Dienste für eine Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit. Doch wie eigentlich nimmt man eine Auszeit auch von dieser Möglichkeit der Verbindung? Braucht es die? Wie viel ist für mich notwendig, angenehm, sinnvoll? Vor dem Start ging ich die möglichen Optionen durch. Kontakt nur über gelegentliche Telefonate am Münzfernsprecher? Heißt auch, ich bin nur erreichbar, wenn ich mich melde. Ganz schön hart für die, die zurückbleiben. Möglicherweise für mich auch. Variante zwei: Ein Prepaid-Handy nur zum Telefonieren, keine Bildchen, keine Videos. Die Nummer würde ich nur „Auserwählten“ geben. Doch wie treffe ich diese Auswahl? Variante Nummer drei: das ganze Programm. Alle Kontakte, zu allen Zeiten, mit allen Möglichkeiten: Ton, Video, Text, Bilder. 

 

Frau mit Handy - so bleibst du in Kontakt mit der Heimat
Im Kontakt sein zu können, fühlt sich gut an.

 

Relativ schnell wird mir klar, ich will letzteres. Ohne jemandem irgendwas dabei zu versprechen, also weder regelmäßige Updates, noch Einklinken in Chats. Nach den ersten Wochen weiß ich jetzt, es funktioniert erstaunlich einfach und gut.

 

Das Gewohnheitstier in mir versucht allerdings, auch im Auszeitland das Ruder an sich zu reisen. Immer wieder fragt es in stillen Momenten: Was machst Du gern? Was fühlt sich gut an? Was war schön? Dann machen wir das genauso wieder. Allerdings hat es das Gewohnheitstier nicht leicht. Schließlich bin ich alle paar Tage an einem anderen Ort. Ideal also, wenn die Rituale unabhängig von Ort und Zeit funktionieren.

 

Gut für Herz & Seele: Süße Teilchen gehen immer!

 

Welche das sind? Natürlich der schon viel gepriesene tägliche Café com Leite. Sich dafür notfalls jede Woche ein neues Café zu suchen, scheint durchaus machbar.

 

Zweitens: Meditieren am Morgen zum frischen Start in den Tag. Da ich in jedem noch so einfachen Zimmer ein Bett habe, ist der Ort dafür meist schon geklärt. Manchmal kommt mir der nahe Strand gelegen, dann tappe ich, noch leicht verschlafen, ans Meer und lasse mich im von der Nacht noch kühlen Sand nieder, um mit diesem Tag und seinen kleinen, stillen Versprechen Kontakt aufzunehmen.

 

Drittens: Telefonieren mit meinem Sohn. Ab und an verabreden wir uns dafür zum gemeinsamen Frühstück auf dem Balkon, er in Deutschland, ich in Portugal, plaudern mit Kopfhörern im Ohr, als säßen wir zusammen am heimischen Esstisch. Ohne Eile, ohne Münzstapel. 

 

Da wir fast schon alte Hasen darin sind, über Ländergrenzen hinweg Kontakt zu halten, seit er für mehrere Monate in Australien war, bin ich froh und dankbar, dass wir auch jetzt so gut in Verbindung bleiben. So unabhängig er auch längst seine eigenen Wege geht, das mit Mama-darüber-reden hat glücklicherweise nie ganz aufgehört. Ich bin längst nicht mehr die Erste oder gar Einzige, der er von Neuigkeiten erzählt. Doch ich darf teilnehmen an seinen kleinen und großen Plänen.

 

Ich frage ihn um Rat, wenn ich mal keinen Plan habe, wir legen unsere jeweiligen Auszeiten wie Blaupausen übereinander, stellen Ähnlichkeiten fest, entdecken neugierig die Unterschiede und die jeweils andere Perspektive. Ab und an schwappen auch ein paar Anekdoten aus dem Leben in der Jungs-WG zu mir herüber, die sich, welch Überraschung, wunderbar wohlfühlt in unseren vier Wänden. 

 

Lissabon Alfama Schreiben in der Auszeit 50plus
Fürs Telefonat nach Hause finden sich auch ungewöhnliche Plätze - wie hier in Lissabons Alfama

 

Herzenssache: Telefonieren mit dem großen Bruder. Zu Hause wohnen wir keine zwanzig Kilometer voneinander entfernt, hören und sehen uns aber eher sporadisch. Viel zu tun, viel um die Ohren. Und dann bin ich Tausende Kilometer weit weg und das kleine schwarze Telefon wird regelmäßig dienstags zu unserer Verbindung. Nicht selten eine Stunde lang. Zeit zum Reden, Zuhören, Kontakt in die Heimat, Kontakt ins Ausland, großer Bruder, kleine Schwester. Sorgen und Nöte anvertrauen, lachen über die Geschichten der Woche, Ausblick auf die kleinen und großen deutschen und portugiesischen To-Do's. Das Ritual beginnt unabgesprochen, aber bereits in der zweiten Woche verselbstständigt es sich. So einfach, so klar.

 

 

Portugal Tavira Café trinken Auszeit 50plus
Café com Leite und einen Platz an der Sonne - ideal zum Telefonieren

 

Genauso wichtig: Videotelefonieren mit Freundin Simone. Die erste Vertraute meiner Auszeit-Pläne ist ganz selbstverständlich in diesen Wochen stetig an meiner Seite. Wir rufen uns an, wann immer uns der Sinn danach steht. Es gibt keinen Plan, keine Verabredungen, es kommt, wie es kommt. Ich nehme den Unterschied zwischen ihrer Taktung und meinem Gleichmut, zwischen meinen Emotionen und ihrem Geerdet-sein deutlich wahr. Beides ist wichtig, tut gut und macht das Von-der-Seele-reden leichter; je länger ich hier bin, umso mehr. Anfangs will ich wohl auch sie nicht mit meinen Achterbahn-Emotionen nerven oder gar enttäuschen, sondern vor allem erzählen, wie viel Schönes es hier gibt, schließlich war sie die vom ersten Moment an begeisterte Anhängerin meines Vorhabens. Doch mehr und mehr lasse ich los vom Ansatz der perfekten Auszeit-Freundin und genieße es einfach zu erzählen, wie es tatsächlich ist. Simone ist es auch, die mir am deutlichsten klarmacht, dass der Vermissen-Schmerz nicht nur meine Spielwiese ist, sondern auch bei meinen Lieben zu Hause in der vertrauten Kulisse immer wieder anklopft. Zum Heulen schön zu hören, dass ich vermisst werde.

 

Festes Ritual: Einmal Skypen pro Woche mit einer guten Freundin. Zwei Stunden. Jedes Mal. Wir sind uns an unseren 11 Zoll Monitoren so erstaunlich nah, als würden wir an meinem Esstisch zu Hause in der heimischen Stube sitzen, manchmal fühlt es sich fast noch näher an. Bevor wir die kleine rote Auflegetaste drücken, klopfen wir schon mal unsere nächste Option ab, wann wir uns wieder hören und sehen können.

 

Portugal Auszeit mit 50plus, Sonnenuntergang am Wasser
Sonnenuntergänge - auch in der Auszeit schön ;-)

 

 

Das Gewohnheitstier kuschelt sich zurecht und genießt still. Es gibt schon genügend Aufregung und Abwechslung in dieser Zeit. Wie schön, dass da ein paar Stunden sind, in denen es weiß, wie der Hase läuft. Es fühlt sich sicher, es fühlt sich verstanden. Und ist dann auch wieder bereit, sich ins nächste Abenteuer zu stürzen – gleich um die Ecke oder am nächsten Ort. Nicht ohne Augen und Ohren offenzuhalten auf der Suche nach neuen Ritualen. Wir zwei haben ja noch Zeit, bis es wieder nach Hause geht.

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