Kapitel 41: Ab auf die Insel

 

Ich brauche Bewegung. Ich muss laufen, um Ordnung in meine Gedanken zu kriegen. Ich ziehe mir die Turnschuhe an, greife meine Fleecejacke, der Wind weht heute frisch. Dann laufe ich los.

 

Mein Ziel ist die Ilha de Tavira. Die Insel vor den Toren der Stadt ist nur über eine Fähre zu erreichen. Bis dorthin ist es eine knappe Stunde zu Fuß. Ich will nicht unbedingt auf die Insel. Ich brauche nur ein Ziel für meinen Fußmarsch, will einfach raus aus meinen vier Wänden und aus den Gassen der Stadt, die mir schon so vertraut sind. Ich will dahin, wo der Wind mir an den Haaren zieht und mich die Kraft der Natur spüren lässt.

 

Portugal Tavira, Innenstadt Park Blumen
Einfach loslaufen, die Sonne wagt sich auch ab und an aus der Deckung

 

In mir kreisen die Gedanken: Wo will ich hin? Wie geht meine Reise weiter, jetzt, da ich wieder allein unterwegs bin. Was mache ich in den noch verbleibenden Tagen allein in Tavira? Der Abschied von Birgit macht mir mehr zu schaffen, als ich mir eingestehen will. Es ist, als hätte ich eine Seelenverwandte verloren. Mir fehlen die Gespräche mit ihr. Die vergangenen Tage waren voll davon. Über das, was wir wollen, was wir nicht mehr wollen, von unserer Auszeit, vom Leben, wie wir uns das Hiersein und das Nachhause-kommen vorstellen. Wie uns die Zeit hier immer wieder mit neuen Erkenntnissen überrascht, vor allem dann, wenn wir nicht danach suchen. Wie wir mehr und mehr lernen, die Tage anzunehmen, wie sie sind, mal voller Genuss, mal im Taumel des Zweifels. Mit ihr fühlte sich mein eigenes Auf und Ab leichter an, irgendwie auch normaler. 

 

Anfangs macht es uns die gemeinsame Sprache leicht, ins Gespräch zu kommen. Nach drei Wochen, die ich entweder schweigend verbracht oder mich in fremden Sprachen verständigt hatte, war ich wie ausgehungert nach dem Klang meiner Muttersprache. Ich hatte nicht erwartet, dass sie mir so fehlen würde. Ich genoss es, einfach im Takt von Herz und Seele sprechen zu können, ohne um Worte und Formulierungen ringen zu müssen.

 

 

 

Hätte ich also doch gemeinsam mit Birgit weiterreisen sollen? Hätten wir uns zusammen ein Apartment nehmen sollen, wenigstens für ein paar Tage? Hätte es nicht doch gutgetan, noch etwas mehr Zeit zu haben fürs Reden, für Visionen über die Zeit danach, für die Perspektive der Freundin aufs eigene Leben? So viel „hätte“. 

 

Dabei merke ich bereits jetzt: Wir verlieren uns nicht aus den Augen. Schon jetzt schreiben wir uns immer wieder, teilen Beobachtungen, schicken Sprachnachrichten. Stets finden wir das wunderbare Maß aus Anteil-nehmen und Mitteilen, ohne die andere zuzuschütten mit den eigenen Themen. Wir können uns bei aller Nähe immer wieder Raum geben, trotz der Intensität unserer Gespräche. Im Pendel zwischen atemlosen Reden und stillem, manchmal staunendem Zuhören. 

 

Jetzt ist niemand da zum Reden, zumindest nicht in dieser Tiefe. Plötzlich umgibt mich wieder Stille. Sie fühlt sich lautloser an, als in den Anfängen meiner Zeit in Portugal. Elias ist an meiner Seite, wann immer ich das will. Und doch ist da eine Lücke, die auch er nicht schließen kann. Uns verbindet etwas Anderes. Ich weiß es, und er weiß es auch. Trotz manch sprachlicher Hürden herrscht zwischen uns darin eine erstaunliche Klarheit.

 

Weil ich jedoch jenseits davon nicht weiß, was ich eigentlich will, laufe ich jetzt. Konzentriere mich auf meine Schritte und den Boden unter mir, der zwischen Asphalt, Gras und nackter Erde wechselt, je nachdem, welchen Schlenker der Fußweg gerade nimmt. Teilweise führt der Pfad direkt an der Straße entlang, es ist mir einerlei. Es geht nicht um die Schönheit des Weges, sondern um die Meter unter meinen Füßen. Fünfzig Minuten später erreiche ich die Anlegestelle zur Ilha de Tavira. Noch immer versteckt sich die Sonne hinter einem dicht bewölkten Himmel. Die Fähre aus dunkelblauem Stahl, die im Hafen liegt, scheint die Farbe der Wolken zu spiegeln. 

 

Portugal Ilha de Tavira Anlegestelle Fähre
Die Anlegestelle zur Insel in Sichtweite

 

Ich entdecke ein kleines Café direkt am Hafen, dessen einfache Stühle mich zum Niederlassen einladen. Der kräftige Wind zerrt an der rotweißen Fahne, die Werbung für Eis macht. Ich lasse mich an einem Tisch nahe der Hauswand nieder und bin erstaunt, wie windstill es plötzlich ist. Zum ersten Mal an diesem Tag lugt die Sonne vorsichtig hervor. Ich bestelle mir einen Kaffee und ein Croissant und lehne meinen Kopf an die weiß getünchte Wand hinter mir. Der Drang, mich zu bewegen, hat einen Moment nachgelassen. Noch immer schwingt die Melancholie in mir, wenn auch deutlich schwächer als noch vor einer Stunde. Für einen Augenblick schließe ich die Augen, spüre, wie die warmen Sonnenstrahlen mein Gesicht streicheln, höre die Gespräche an den Nachbartischen. Noch empfinde ich nicht den ganz großen Frieden in mir, aber ich kann die Freude auf meine verbleibenden Tage in Tavira bereits wieder ahnen, und ja, auch auf die Zeit danach. Es würde gut werden. 

 

Portugal Tavira, Ilha de Tavira, Anlegestelle
Die "Libre" - direkt vor meiner Nase ;-)

 

Als ich die Augen öffne, stehen vor mir ein Café com Leite und ein Teller mit einem Croissant. Ich habe die Kellnerin nicht kommen hören. Ich schaue auf diese einfachen und doch so schönen Dinge, blicke mich um und habe plötzlich das Gefühl, als würde mir der Tag sanft seine Hand reichen. Und dann sehe ich es direkt vor mir liegen, keine fünfzig Meter entfernt: ein kleines Fischerboot. Es schaukelt, wie die vielen anderen Boote, sanft auf und ab. Es ist in die Jahre gekommen. Nur sein Name, als geschwungener Schriftzug an der Seite, glänzt wie frisch gepinselt: Libre. Am hinteren Teil des Bootes weht die spanische Flagge. 

 

Ich tunke das noch ofenwarme Croissant in die Schaumkrone aus Milch auf meinen Kaffee. Wieder und wieder muss ich zu diesem Boot schauen. Libre. Ich will es genau wissen, schlage das Wort nach und lese: „Libre, aus dem Spanischen kommend, Bedeutung: frei, freischaffend, ungebunden.“ Was für ein Bild für meine Auszeit, die gerade einmal drei Wochen jung ist und mir doch schon so viele Momente geschenkt hat im Freisein, im freischaffenden und ungebundenen Tun, wo ich will, wann ich will. Mit einer freudvollen Entschlossenheit, die so gar nichts zu tun hat mit „Füße hoch im Paradies“.

 

Tavira Airbnb Allein reisen Frau ü50
Zurück in meinem Zimmer - mit einem Lächeln und neuer Klarheit!

 

Plötzlich sehe ich vor meinem geistigen Auge ein Bild: Zu Hause in meinem Arbeitszimmer hänge ich nach meiner Rückkehr aus Portugal ein großes Foto dieses Bootes direkt an die Wand neben meinem Schreibtisch. Jedes Mal, wenn ich das Zimmer betrete, fällt mein Blick auf dieses Bild. Jedes Mal erinnere ich mich an diesen einen Moment an der Ilha de Tavira. Erinnere mich daran, wie diese Ahnung von Freude in mir aufsteigt auf das, was kommt. An das glückliche Gefühl während meiner Reise mit all ihren Begegnungen. An ein „Auf und Davon“ mit weitem Herzen und Freiheit in der Brust.

 

 

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