Das Gewohnheitstier liegt beleidigt in der Ecke. Es hat hier absolut nichts verloren an dieser Bushaltestelle, um neun Uhr morgens, die Geräusche der Heckenschere im Ohr. Am liebsten würde ich ihm sanft über den Kopf streichen und ihm sagen, es wird alles gut. Sagen, dass wir heute Abend schon wieder zu Hause sind. Doch es ist nicht der richtige Moment. Ich weiß es, und das Gewohnheitstier weiß es auch. Es braucht genau jetzt seinen Platz, seine Bühne.
Es hatte sich eingerichtet im schönen, entspannten Luz. Mal zwei Wochen nicht wegbewegen, nicht immer ein neuer Ort, ein neues Glück. Einfach mal einrichten in ein und demselben Apartment, in Lieblingscafés, demselben Platz am Meer, an immer derselben Stelle baden gehen, keine fünfzig Meter entfernt von den schnurgerade aufgereihten, leuchtend gelben Bojen, die die Zufahrt für die Boote markieren. Alles schön, vertraut, gewohnt.
Als ich vergangene Woche, noch im Norden unterwegs, das Apartment in Luz buche, leckt sich das Gewohnheitstier in stiller, doch unübersehbarer Vorfreude die Pfoten: Zwei Wochen an einem Ort. Es würde ein Fest werden. Nun liegt eine Woche Luz hinter uns. Und plötzlich heißt es wieder aufbrechen, völlig unerwartet. Wenn auch nur für einen Tag.
Dieser Montag verspricht sonnig zu werden, nicht zu heiß, eigentlich genau das richtige Wetter für ein Pendeln zwischen Strand, Café und vielleicht einem kleinen Bummel am Wasser entlang. Und nun das: Ich will heute einen Ausflug machen. Nach Burgau. Das Gewohnheitstier nennt es „Was entdecken“, und an der gequälten Aussprache der beiden Worte kann ich hören, was es davon hält: nichts. Was wollen wir in Burgau, wenn wir es in Luz schon schön haben? Warum an einen Ort reisen, von dem wir nicht wissen, ob er hält, was er verspricht? Wo wir doch den Traum von entspannter Schönheit direkt vor der Nase haben?
Weil ich neugierig bin. Neugierig auf Burgau, diesen kleinen Ort, nur wenige Kilometer von Luz entfernt, ebenfalls am Meer gelegen. Ricardo beschreibt es als die kleinere, charmante Version von Luz, mit weniger Touristen, weniger Trubel. Ricardo ist der Kellner, mit dem ich vor wenigen Tagen in der kleinen Tapasbar ins Gespräch komme, erst auf Portugiesisch, dann auf Englisch, bis wir lachend feststellen: Wir sind beide Deutsche.
Seine Beschreibung von Burgau hat mich neugierig gemacht. Luz gefällt mir, doch jetzt, da die Hochsaison bevorsteht, frage ich mich, wie voll es möglicherweise noch werden wird am Strand und in den Cafés. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, einen weiteren Ort zu erkunden, um zu schauen, ob ich in einer Woche vielleicht dorthin umziehe? Bis zu meiner Heimreise sind es dann noch drei Wochen. Ich will sie gern am Meer verbringen, aber ganz sicher nicht in einer der trubeligen Touristen-Hochburgen. Von denen ist Luz zwar weit entfernt, dennoch bin ich neugierig auf den Vergleich mit Burgau.
Das Gewohnheitstier sieht es anders. Zum einen findet es, wir haben in den vergangenen zwölf Wochen genug entdeckt, ständig auf Achse, jeden Tag ein neues Abenteuer. Das ist selbstredend maßlos überzogen. Doch es neigt nun mal zu Drama und Übertreibung. Es hofft, damit genügend Aufmerksamkeit zu bekommen und mich umstimmen zu können. Wäre es nach meinem Gewohnheitstier gegangen, hätten wir es uns schon in Praia de Faro, spätestens aber in Tavira, gemütlich machen können. Wir hatten dort alles, was wir brauchen. Stattdessen sind wir weitergezogen, und weiter und weiter. An dieser Stelle rollt es mit den Augen. Schon wieder.
Ich weiß, bleiben ist auch schön. Aber nach einer Woche Luz schwanke ich zwischen hippeliger Neugier und entspanntem Zurücklehnen. Ich gebe der Neugier nach. Morgen konnten wir meinetwegen wieder im Gleichklang der Tage weitermachen. Heute heißt es: auf nach Burgau. Obwohl der Erfolg der Mission noch etwas fraglich ist. Auf dem Weg zur Bushaltestelle kommen mir nämlich gleich zwei Busse entgegen, einer davon Richtung Burgau. Hoffentlich ist das nicht der einzige heute, schießt es mir durch den Kopf. Vielleicht hätte ich vorher doch mal genauer nach den Abfahrtszeiten schauen sollen.
An der Bushaltestelle werfe ich einen Blick auf den von der Sonne ausgeblichenen Fahrplan. In einer halben Stunde soll der nächste Bus kommen. Ich setze mich und warte. Das ist der Moment, in dem die Heckenschere ihren Einsatz im Nachbargrundstück hat und dem Gewohnheitstier noch zusätzlich Zündstoff für seine Übellaunigkeit gibt. Nach dreißig Minuten kommt tatsächlich der Bus – nach Burgau. Glück für mich, Pech fürs Gewohnheitstier. Es hat mein Mitgefühl, aber ich steige dennoch ein.
Das Erste, was mir in Burgau auffällt: Es ist erstaunlich still hier. Alle Geräusche klingen wie gedämpft, als hätte jemand den Lautstärkeregler heruntergedreht. In den engen Gassen sind nur wenige Menschen unterwegs, die beiden Cafés, an denen ich auf dem Weg zum Strand vorbeikomme, sind geschlossen. Nun gut, es ist gerade mal zehn Uhr morgens. Auch am Strand herrscht Ruhe. Eine Frau steht etwas abseits im Sand und gibt sich lautlos ihren Yogaübungen hin. Selbst das Meer rollt in milden Wellen heran, als würde es die Strandbesucher nicht stören wollen. Ich lasse mich im Sand nieder, doch so richtig will sich keine Entspannung einstellen. Vielmehr ist mir in all dieser Stille danach, so richtig laut loszuschreien. Aus reiner Neugier, was dann passiert. Normalerweise kann ich Ruhe genießen. Hier jedoch löst sie in mir ein Gefühl von zäher Trägheit aus, als wäre kein Leben im Farbfilm.
Nur ein paar Meter weiter hat sich eine Familie mit Kleinkind auf zwei großen Decken ausgebreitet. Es dauert nur wenige Minuten, bis der vielleicht Zweijährige anfängt zu weinen. Womöglich findet er diese Flüsterkulisse einfach zum Heulen. Wir könnten ein bisschen zusammen rumschreien, denke ich und muss bei der Vorstellung lächeln. Den Eltern ist anzusehen, wie sie das Geschrei ihres Sprösslings nervös macht, sie wollen niemanden stören. Doch je mehr sie sich bemühen, den Kleinen zur Ruhe zu bringen, desto mehr steigert sich sein Weinen in ein ausgewachsenes Brüllen.
Ich bleibe ein paar Minuten auf meinem Handtuch liegen, dann streift mich das erste Mal Langeweile. Seltsam, in Luz gibt es auch nur diese Zutaten: Sand, Meer, Sonne, Menschen. Hier jedoch nervt es mich. Nach einer guten halben Stunde packe ich meine Sachen zusammen. Ich würde der sympathischen Kleinfamilie gern erklären, dass mein Aufbruch absolut nichts mit dem immer wieder aufkeimenden Brüllen ihres süßen Steppkes zu tun hat, lasse es in Ermangelung von passenden Vokabeln allerdings bleiben und schenke ihnen im Vorbeigehen nur ein stummes Lächeln.
Auf der Suche nach einem Café nehme ich eine der steilen Gassen in den Ort hinein. In Burgau führen so gut wie alle Straßen entweder steil bergauf oder bergab. Ich entdecke ein paar Lebensmittelläden, ein paar Shops mit Souvenirs und Strandutensilien und einige kleine Cafés und Restaurants. Um diese frühe Stunde haben letztere fast alle noch geschlossen.
Am Ende lasse ich mich in einem einfachen Café mit direktem Blick auf die Bucht nieder. Ich höre das Gewohnheitstier neben mir nuscheln, dass wir den Bus um die Mittagszeit spielend bekommen hätten, wir könnten bereits wieder in Luz sein. Ich weiß, raune ich ihm leise zu. Doch ich will noch nicht zurück. Denn hier im Café gibt’s portugiesisches Leben in Reinkultur. Jeder scheint jeden zu kennen, die Gespräche wabern von der Theke über die Tische hinweg. Man grüßt mich, als würde ich bereits zum Inventar gehören.
Das kleine Mädchen am Nachbartisch, das mit seiner Familie dort sitzt, leiht sich von mir Stift und Zettel zum Malen. Immer wieder schaut sie zu mir herüber, um zu sehen, was ich da die ganze Zeit schreibe. Sie ahmt es still nach, ihre Lippen konzentriert aufeinandergepresst. Ich könnte ihr erzählen, wie mir dieser Blick von hier oben übers Meer das Herz öffnet, wie mir Ideen kommen, wie mir Texte einfallen. Vielleicht geht es ihr genauso, nur dass sie Bilder statt Worte verwendet? Ich könnte dem Gewohnheitstier zuflüstern, dass wir heute Abend zurück sind – und dann in Luz bleiben, versprochen! Weil meine Neugier gestillt ist. Weil Burgau schön ist, aber zu leise für mich. Denn will ich flüstern, wo doch angesichts meiner wunderbaren Auszeit das pure, pralle Leben in mir pulsiert?!
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