KAPITEL 5: "Noch mal leben"

 

Lange war die Zeit auf meiner Seite. Gefühlt mein ganzes bisheriges Leben. Es schien, als hätte ich unendlich viel davon. Für alles würde irgendwann noch eine Gelegenheit kommen. Es blieb vage und verheißungsvoll gleichermaßen. 

 

Ich war mir sicher: Ich konnte, wenn es so weit war. Wenn ich gefestigt genug sein würde im Job; wenn der Sohn aus dem Gröbsten raus wäre, meine Eltern versorgt. Immer neue Gründe kamen dazu. Ich war beruhigt über die Fülle an Möglichkeiten, die morgen auch noch existieren würde. Derweil verlief mein Leben in seinen gewohnten Bahnen. Hätte ich einmal länger darüber nachgedacht, wäre mir vielleicht aufgefallen, dass dieses verheißungsvolle „Irgendwann“ am Ende nur ein anderes Wort war für nie. 

 

Brit Gloss_Alleine-los-Blog_Kapitel 5_Noch mal leben

 

Doch plötzlich sieht die Lage anders aus. Vielleicht, weil die Jahre ins Land gehen. Und ich mir nicht irgendwann, sondern jetzt die Frage stellen muss: Bin ich zufrieden, da, wo ich bin, wie ich bin? Steigt ein kraftvolles „Ja“ in mir auf? Oder mehr so ein „Naja“? Und genügt mir das? Und wenn es das nicht tut, was dann? Wie lange habe ich Zeit für Veränderung, wenn die Antwort ein Nein ist oder mir ein Naja nicht genügen will? Schließlich wird das vor mir Liegende endlicher. Und vor allem deutlicher in seiner Endlichkeit.

 

Auf welche Gelegenheit warte ich eigentlich genau? Welche Gründe oder Ausreden stellen sich mir in den Weg? Oder stelle ich sie mir selbst in den Weg, damit alles so bleiben kann, wie es ist? Was würde in ein, zwei Jahren anders sein als jetzt? Was würde es mir in ein, zwei Jahren vermeintlich leichter machen, etwas Neues auszuprobieren, etwas Anderes zu wagen?  

 

Seit Jahren berührt mich immer wieder eine Frage und vor allem die Antwort darauf: Was bereuen Menschen in den letzten Stunden ihres Lebens am meisten? Tatsächlich sind es die Dinge, die sie nicht getan, sich nicht getraut haben. Wenn ich so weitermache, würde ich dann nicht auch irgendwann zu ihnen gehören?

 

Abschied_Noch mal leben
© Rebecca Scholz

 

Ich muss an die Fotos denken, die ich mit Anfang dreißig in einer Ausstellung gesehen habe. Porträtaufnahmen von Menschen kurz vor und kurz nach ihrem Lebensende, aufgenommen in einem Hospiz. „Noch mal leben“ hieß die Ausstellung, die sich an jenem Herbsttag so eindringlich in meine Erinnerung brannte.

 

Neben den großformatigen Bildern standen die mit wenigen Worten beschriebenen Lebensgeschichten der Menschen. Oft hatte sich darin der Tod zu schnell und unerwartet angeschlichen, als dass man dem Leben noch hätte eine wirkliche Wende geben können. Etwas zu tun oder nachzuholen, was man doch schon so lange geplant hatte, irgendwann, wenn Zeit dafür sein würde. Um plötzlich feststellen zu müssen, es gibt diese Zeit nicht mehr. Dem Leben kommt der Tod dazwischen. Gnadenlos. Unverhandelbar. Keine Frist mehr für nichts.

 

In den Schwarz-Weiß-Aufnahmen kurz vor dem Lebensende konnte ich immer wieder das Ringen um verpasste Gelegenheiten und die Fassungslosigkeit, dass es dafür jetzt zu spät war, nahezu körperlich spüren, so präsent war der Ausdruck in den Gesichtern. Ich weinte still, angesichts dieser Aussichtslosigkeit. Erst der Frieden, den ausgerechnet die Bilder der Verstorbenen verströmten, vermochte mich damals ein wenig zu trösten. Auf ihre Gesichter hatte sich der Tod wie ein zartes Tuch gelegt und ließ die Spuren des Kampfes verblassen. Gleichwohl erschienen mir schon damals die Geschichten dieser Menschen wie ein Auftrag an die Lebenden: die Dinge, die man wirklich und unter allen Umständen wollte, einfach zu tun, solange die Chance dazu bestand. 

 

Irgendwann wird auch meine Zeit hier vorbei sein. Im besten Falle erst in einer ferneren Zukunft. Doch auch, wenn das hoffentlich noch lange hin ist, beginnt diese Zukunft genau jetzt. Und damit zugleich das, was ich aus ihr mache. Welche Spuren würden in meinem Gesicht bleiben, wenn ich jetzt die Gelegenheit ergreifen und dem Ruf meines Herzens folgen würde, wenigstens für einige Monate? Auch wenn meinem Verstand schlicht die Worte fehlen angesichts dieser absurden Idee, es mir ein paar Monate einfach irgendwo gut gehen zu lassen. Das ist seine Art, meine Auf-und-davon-Pläne zu beschreiben: Wie konnte ich nur so unverantwortlich sein? Es würde ein einziges finanzielles Desaster werden. Und wofür das Ganze? Alles wohl kaum der Rede wert.

 

 

Einfach mal machen

 

Mag sein, dass es so ist, auf der einen Seite. Und auf der anderen? Wirklich ein Kaum-der-Rede-wert? Oder vielmehr ein Strahlen im Blick? Ein Grinsen in den Mundwinkeln? Lachfalte an Lachfalte um die Augen? Allein dafür würde es sich doch lohnen. Bei dem französischen Schriftsteller und Philosophen Albert Camus hatte ich mal gelesen: „Ab einem gewissen Alter ist man für sein Gesicht selbst verantwortlich.“ Immer mehr erkenne ich, wieviel Wahrheit in diesem Satz steckt. Wer weiß, vielleicht habe ich dieses Alter ja genau jetzt erreicht? Ein Alter, in dem ich mich nicht selbstgefällig zurücklehne in der Vorstellung, ich habe genug ausprobiert, riskiert, erreicht, sondern mich ganz bewusst aus der Komfortzone schubse.

 

Noch nie war es mir so klar wie jetzt: Das Leben will einen ausgeben! So etwas passiert jedoch nicht zu Hause auf dem Sofa. Dafür muss ich vor die Tür. Und nein, nicht nur bis zur nächsten Ecke, sondern hinein ins pralle, unbekannte Leben.

 

 

Die Ausstellung: "Noch mal leben"

Ausstellung "Noch mal leben", Dresden
"Noch mal leben" - die Ausstellung 2004 im Dresdner Hygienemuseum

 

Als Ergänzung zu diesem Kapitel möchte ich euch die Ausstellung "Noch mal leben" ans Herz legen. 

Über zwei Jahre arbeiteten die Journalistin Beate Lakotta und der Fotograf Walter Schels an diesem Projekt. Informationen, Bilder sowie eventuelle weitere Ausstellungsstandorte findet ihr auf www.noch-mal-leben.de

 

 

Neugierige Katze am Fenster
Auch schon neugierig, wie es weitergeht? © pixaline

Auszug aus dem sechsten Kapitel

 

Vor zwei Jahren haben meine beste Freundin Katja und ich gemeinsam unseren fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Wir wollten diese Zahl nicht einfach so still und heimlich übergehen. Sie stand sowieso wie ein rosa Elefant im Raum, ganz gleich, wie sehr wir uns bemühten, sie zu ignorieren oder zumindest kein großes Ding daraus zu machen. Also entschieden wir uns, der Zahl und unserem Alter lachend die Stirn zu bieten. Wir fühlten uns gut gewappnet, ihr entgegen zu treten mit einem „Hier sind wir! Lass uns die Gläser heben, auf das, was war. Und auf das, was noch kommt!“

 

 

Es war ein wunderbares Fest in einer von der Augustsonne aufgeheizten Nacht. Wir tanzten selig zur Musik unseres Gestern und ausgelassen zu den Rhythmen des Heute. Wir staunten, dass wir uns in allen Takten gleichermaßen jung fühlten. Je später der Abend, desto mehr verlor der rosa Elefant seinen Schrecken. Wovor nur hatten wir solche Angst gehabt? Es war doch gar nicht so schwer, fünfzig zu werden. Am Morgen danach räumten wir die Reste der Party auf und gingen vierundzwanzig Stunden später wieder zur Tagesordnung über. Wir hatten die Hürde der neuen Zahl genommen, wir konnten stolz auf uns sein. Ab und an ließ sich die Party-Geschichte noch gut erzählen. Bis auch das verblasste. Zeit, zum gewohnten Gleichklang zurückzukehren. Bis zum nächsten Runden blieb uns eine gefühlte Ewigkeit.

 

...

 

 

 Nächsten Freitag lest Ihr das komplette Kapitel.

 

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