Vor meiner Wohnungstür stehen unzählige, wahllos hingestellte Schuhe, als wüssten sie selbst nicht so genau, wie aus ihnen wieder Paare werden sollen. Unschlüssig drehe ich den Wohnungsschlüssel in meiner Hand. Vier Monate, nachdem ich mich von hier aus aufgemacht hatte in meine Auszeit, fühlt sich mein Ankommen jetzt an, als käme ich nur zu Besuch. Und so lasse ich die Hand wieder sinken und drücke kurzerhand auf die Klingel. Der vertraute Ton erschallt, doch hinter der Tür bleibt es ruhig. Ich warte.
Ich hatte mein Kommen für diesen Freitagabend angekündigt. Vielleicht rechnet trotzdem niemand mit mir? Schließlich liegt meine Ankündigung bereits eine Woche zurück. Oder glaubt die Jungs-WG inklusive meines Sohnes, ich könnte es mir anders überlegt haben? Bin ich mir selbst sicher, wieder einzuziehen zu wollen?
Wie es wohl wäre, nicht durch diese Tür zu gehen? Mich stattdessen umzudrehen und wieder zu gehen. Als hätte ich mich in der Adresse geirrt. Doch wohin würden mich meine Füße tragen? Wo könnte ich sein wollen, wenn nicht hier? Ich fühle mich gerade überall und nirgendwo richtig zu Hause.
Ich widerstehe dem Impuls, noch einmal zu klingeln. Ich habe Zeit. Vor allem aber habe ich wohl Angst, die Blase aus Möglichkeiten zu früh zum Platzen zu bringen. Und bin gleichzeitig überrascht, dass mich zwanzig Zentimeter vor meiner Wohnungstür, meinen Rucksack noch auf dem Rücken, noch einmal derartige Zweifel überkommen würden. Sie werden kurz darauf unterbrochen vom Geräusch einer zufallenden Tür und einer Stimme. Dann öffnet sich die Wohnungstür. Das erkennende Grinsen im Gesicht meines Gegenübers zeigt mir, die Jungs haben nicht vergessen, dass ich heute komme. Es spielt nur an diesem warmen Sommerabend nicht die große Rolle. Der Auszug steht erst morgen an. Ich würde die heutige Nacht im Zimmer meines Sohnes schlafen. Ein bisschen wie auf Probe, ob es mir gefällt. Und wenn nicht? Da ist er wieder, der Zweifel.
Trotzdem muss ich lächeln. Die Jungs scheinen gleichauf zu sein mit mir und meinem Leben-im-Moment. Dafür mussten sie nicht einmal bis ans südwestliche Ende von Europa reisen. Ich verziehe mich in das Zimmer meines Sohnes und mache es mir wenig später mit einem Glas Wein auf dem Balkon gemütlich.
Hier erwartet mich das vertraute Bild: die Dächer der Nachbarhäuser, das Grün der kleinen Gärten, der Blick bis hinüber zu den Elbhängen. Die Luft ist mild. Ich warte auf das warme Gefühl in mir, dass sich immer dann verlässlich einstellt, wenn ich hier sitze. Heute stellt sich nichts ein. Stattdessen wandern meine Gedanken auf die andere Seite des Flusses. Zu jener Wohnung, die für drei Wochen mein Zuhause auf Zeit war, nachdem ich aus Portugal zurückgekehrt war. Und die mir somit noch weiteren Aufschub gewährte beim Ankommen im Gewohnten. Nun ist auch diese Zeit vorbei.
Um mich herum ist es ruhig. Alle scheinen ausgeflogen. Es ist Urlaubszeit, morgen beginnen die Sommerferien. Ab und an weht das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos auf der Straße hinter dem Nachbarhaus herüber.
Ich könnte einfach sitzenbleiben und warten. Warten, dass die Zeit vergeht, warten, welche Gedanken und Gefühle hochkommen wollen bei meinem Versuch, nach Hause zu kommen. Doch ich fühle mich noch nicht bereit dafür. Vielleicht, weil mir erst jetzt mit voller Wucht klar wird, dass das wahre Loslassen von meiner Auszeit erst jetzt wirklich beginnt: Nicht mit dem Abschied nehmen in Portugal. Nicht mit dem Einzug in der Wohnung meines Neffen. Sondern hier und heute, an diesem lauen Sommerabend, mit dem Wieder-Einzug in meine eigenen vier Wände, aus denen ich mich vor gut vier Monaten aufgemacht hatte. Diese Wohnung steht für die Zeit „davor“. Steht für Besitz, Gewohntes, Vertrautes.
Wie oft bin ich früher von Reisen nach Hause gekommen, in Vorfreude auf genau das: mein zu Hause. Jedes Mal ließ ich mich aufs Sofa fallen, glücklich darüber, wie schön ich es hier habe. Ganz gleich, wie schön die Reisen waren, das Ankommen war es auch. Und heute? Ist eine Schwere in mir, die mich gelinde gesagt, befremdet. Ich weiß, all das um mich herum, ist meins. Doch es stimmt mich nicht fröhlich. Es fühlt sich gerade an wie Ballast. Ich bin vier Monate mit fünfzehn Kilo gereist, jetzt will ich gar nicht wissen, wie schwer all das wiegt, was mich umgibt. Weg ist sie, die Leichtigkeit, die ich beim Unterwegssein in Portugal so lieben gelernt habe.
Statt ihrer legt sich der Schmerz des Ankommens schwer auf meine Brust. Ich ahne, er gehört dazu. Ja, dass er nach all diesen wundervollen, freien Tagen und Wochen sogar alles Recht der Welt hat, da zu sein. Ich weiß auch, es würde helfen, sich ihm einmal liebevoll zuzuwenden, Beachtung zu schenken. Erst dann kann er sich langsam wieder trollen. Doch ich bin noch nicht so weit. Ich will das jetzt nicht fühlen, ich will nicht, dass irgendetwas an der Leichtigkeit und der Freude meiner vergangenen Monate zerrt. Ich bin nicht bereit, einfach wieder so im Alten anzukommen, mich jetzt schon wieder einzurichten im Vertrauten und Gewohnten. Es ist zu früh. Obwohl ich keine Ahnung habe, wann der richtige Moment dafür sein soll. Denn allein der Gedanke daran klingt wie aufgeben.
Ich habe die Sätze von Freunden und Kollegen im Ohr, die mich nach meiner Rückkehr nach Deutschland mit den Worten begrüßten: „Ja, noch bist du erholt, warte mal zwei Wochen, dann ist alles wieder weg.“ Doch so einfach ist es eben nicht. Vielleicht macht genau das den Unterschied zwischen einer mehrmonatigen Auszeit und ein paar Wochen Urlaub. Es geht nicht nur ums erholt-sein. Es geht um ein Lebensgefühl, dass ich erfahren durfte. Wie ein Blick hinter den Vorhang. Und das verblasst nicht. Es verpufft nicht wie ein schöner Traum, je mehr Tage ins Land gehen.
Und eben das verbaut mir die Option zur Rückkehr in mein altbekanntes Leben. Hier auf meinem Balkon, auf dem mich die Dämmerung langsam in ihren Arm nimmt, wird mir das zum ersten Mal wirklich klar: Es ist nicht nur ein Gefühl, es ist Gewissheit: Es gibt kein einfach-wieder-zurück, kein Einrichten im Gewohnten, das ich vor vier Monaten zurückgelassen habe. Ich weiß nicht, wohin der Weg führt, aber ich weiß mit Sicherheit, eine Umkehr kommt nicht infrage. Ja nicht einmal stehenbleiben ist eine Option. Es gibt nur eine Richtung: nach vorn.
Ich ahne, dass nicht ich diejenige bin, die das Tempo bestimmt. Wieder einmal. Dass es um Intuition geht. Oder Bauchgefühl. Vor allem aber um Vertrauen. So, wie schon die ganze Zeit. Seit fast genau einem Jahr, als ich hier auf diesem Balkon die unglaubliche Kraft der Auszeit-Idee gespürt habe. Und schon da wusste, es kommt nur Machen infrage. Alles andere waren kurze Gedankenspiele. Mehr um den Verstand zu beruhigen, dass es vielleicht doch nicht so ernst sein könnte.
Hier auf meinem Balkon, den die einsetzende Dunkelheit mehr und mehr einhüllt, eingekuschelt in Kissen und Decke, hoffe und bete ich, dass mir diese innere Kraft und der Glaube daran, dass da etwas wird, nicht verlorengeht. Dass ich weitergehe, Schritt für Schritt, auch wenn ich noch nicht weiß, wohin die Reise führt. Dass der Impuls für die beste Richtung früh genug kommen wird.
Ich lehne mich zurück und blicke in den sternenklaren Nachthimmel über mir. Und da ist er: der Große Wagen. Als hätte er all diese Nächte auf mich gewartet, unübersehbar, wie eine stille Botschaft aus der Vergangenheit – und heute auch wie ein vertrauensvoller Gruß aus der Zukunft.
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