Kapitel 17: Stille hinter der Scheibe

 

Für einen langen Moment herrscht Stille am Bildschirm. Wie eingefroren erscheinen die kleinen Bilder unserer digitalen Runde aus fünf Leuten. Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich tatsächlich, die Verbindung ist unterbrochen. Ich habe soeben von meinen Auszeitplänen erzählt und warte auf eine Reaktion.  

 

Auszeit Ü50, Frau am Rechner, PC, Silhouette Frau, Scherenschnitt
© Chen

 

Zum Beispiel ein „Wow“. Oder ein „Wie geil!“. Oder zumindest ein „Oh?“. Eine Nachfrage, ob ich noch zu retten bin. Irgendetwas. Doch keiner sagt was. Fast bin ich geneigt, mich zu entschuldigen, dass ich mit dieser Nachricht hier so hereinplatze. Denn natürlich hatte keiner der Beteiligten auch nur den Hauch einer Ahnung, was da seit Wochen in meinem Kopf arbeitet. Ich hätte es auch viel lieber im persönlichen Miteinander und vor allem Beieinander erzählt, aber Corona zwingt uns nach wie vor auf Abstand – sowohl mit Freunden als auch Kollegen. Da das auch in den nächsten Wochen so bleiben wird, habe ich mich entschieden, es nun nach und nach in digitalen Team-Meetings und Zoom-Abenden zu erzählen.

 

Auszeit Ü50 Frau am Rechner, Silhouette Frau am Rechner
© Chen

 

Es herrscht noch immer Schweigen hinter der Scheibe. Macht meine Geschichte am Ende viel mehr mit den anderen, als mir bislang klar war? Die zweiundfünfzigjährige Freundin, Kollegin, Nachbarin macht sich auf, allein nach Portugal zu gehen. Dabei war sie doch bislang keine von der Sorte, die durch besonderen Mut oder gar Abenteuerlust hervorstach. Und jetzt das. Völlig überraschend. Mitten aus ihrem Kreis mache ich mich vom Acker. Wenn auch nur für ein paar Monate. Und doch lasse ich alles hinter mir: Familie, Freunde, Job, geregeltes Arbeitsleben, Sicherheiten.

 

Wirft genau das Fragen auf? Weil ich nicht der klassische, risikofreudige Auszeit-Typ bin, sondern eine von ihnen? Zumindest bis zu diesem Moment? Stellen sie sich Fragen, die ich ihnen gar nicht stellen würde, weil ich weiß, dass so eine Entscheidung nicht von außen, sondern nur von innen heraus kommen kann? Säe ich ungewollt Zweifel an ihrem Tun und Sein, weil ich unterwegs sein will, während sie sich in ihrem Leben komfortabel eingerichtet haben, aus ganz unterschiedlichen Gründen? So ist es nicht. Darum geht es nicht, könnte ich ihnen sagen und mein Tonfall wäre eindringlich, damit sie mir glauben. Und doch würde es nicht helfen. Da bin ich mir fast sicher.

 

Auszeit Ü50 Frau, allein, Zeit, Time
© Chen

 

Ich mit meiner Entscheidung bewirke etwas in ihnen, ob ich das nun will oder nicht. Ob es mir gefällt oder nicht. Die erste Frage löst die nächste Frage aus, wie ein Dominoeffekt: Wieso macht Brit das? Wieso traut sie sich das plötzlich? Will ich das auch? Und so weiter … Kein Wunder, dass die Gesichter am Bildschirm schweigend verharren. Ich weiß nicht, die wievielte Frage sie sich mittlerweile stellen. Ich habe schon vor der ersten den Anschluss verloren. Weil ich geglaubt hatte, ich müsste ihnen Fragen beantworten. Zum Beispiel, warum ich das tue. Warum ich allein reisen will. Ob ich keine Angst habe. Ob ich jemanden dort kenne, wo ich hinfahre. Doch keiner fragt. Stattdessen bin ich Zuschauerin ihrer stillen, inneren Dialoge.

 

Auszeit Ü50 Frau, leerer Stuhl
© Chen

 

 

Es ist bereits die dritte Runde, in der ich von meinen Plänen erzähle. Die dritte, die ähnlich reagiert. Vielleicht bin ich deshalb nicht mehr ganz so überrascht. Obwohl das nur die halbe Wahrheit ist. Die andere Hälfte signalisiert mir noch immer Vorfreude, wenn ich beginne zu erzählen. Ich hoffe darauf, dass sich die Anderen vorbehaltlos mit mir freuen und diese Freude einfach rauslassen. Ich möchte hören, dass sie es ebenso cool und mutig finden, wie ich es cool und mutig finde. Denn genau das ist es für mich. Ich finde es aus meiner Warte eben nicht selbstverständlich. Ich weiß noch sehr genau, wie ich vor nicht einmal zwei Jahren gedacht habe, das wäre nichts für mich. Und in meinem Alter erst recht nicht mehr. Vielleicht war ich heimlich sogar froh, dass das „Auf und davon“ in meiner Jugend gar nicht möglich war. Dass mir die Welt nicht offenstand. Ich hätte mich sonst erklären müssen. Erklären, dass es mich aus lauter Angst vor Heimweh eben nicht weit wegzog. Und nun mache ich mich tatsächlich auf den Weg. Doch statt Jubelrufe bleibt es seltsam ruhig auf der anderen Seite.

 

Be you be true just be Zitat

 

Überraschenderweise weicht heute meine erste Enttäuschung einer Welle aus Mitgefühl angesichts der stummen Fragen, die meine Euphorie möglicherweise hinterlassen hat. Plötzlich habe ich vor meinem Bildschirm alle Zeit der Welt. Ich kann das Schweigen zulassen. Vielleicht schweigen wir alle so lange, bis jeder von uns wortlos den Button „Meeting verlassen“ drückt. Vielleicht kommt doch noch etwas. Vielleicht ein Wow. Es spielt keine Rolle mehr für mich. Ich weiß jetzt, es war der richtige Moment, es zu erzählen. Es war keinen Tag zu früh. Nicht zu früh für mich. Ich möchte mir nicht vorstellen, was gewesen wäre, wenn ich auf Anerkennung gesetzt hätte. Wenn diese Idee noch einen Anschub von außen gebraucht hätte, um diese unaufhaltsame Kraft zu entwickeln. Sie braucht es nicht. Sie hat sich eingenistet, um zu bleiben, liebevoll und hartnäckig. Sie ist von Anbeginn so stark, dass ich erfüllt bin von ihr. So erfüllt, dass mir jetzt die Leere hinter der Stille nichts anhaben kann.

 

Ein Räuspern holt mich aus meinen Gedanken zurück. Ich sehe das zaghafte Lächeln auf einigen Gesichtern. Dann gehen wir zum nächsten Thema über. 

 

Katze neugierig am Fenster
Auch schon neugierig, wie es weitergeht? © pixaline

Auszug aus dem 18. Kapitel

 

Wir schreiben Ende Januar. In Portugal schnellen die Inzidenzwerte nach oben. Heute Morgen hat die portugiesische Regierung den kompletten Lockdown bis Mitte März beschlossen, fast auf den Tag genau bis zum Zeitpunkt meiner geplanten Einreise. Unsere Regierung schickt Truppen der Bundeswehr hin, um bei der Versorgung von Kranken zu helfen und Patienten nach Deutschland auszufliegen. Immer öfter fragen mich Familie und Freunde: „Willst du wirklich fahren?“ Ihre Stimmen sind voller Sorge und Zweifel.

 

Ich weiß es schlichtweg nicht. Noch habe ich nichts gebucht, weder Flug noch Unterkunft. Keiner wartet in Portugal auf mich. Ich weiß nur eines: Ich will diese Auszeit! Verschieben kommt nicht infrage. Und ich möchte nach Portugal. Jetzt steht dahinter ein dickes Fragezeichen. Einerseits habe ich nicht vor, in Panik zu verfallen. Andererseits möchte ich aber auch nicht naiv und blauäugig an einem Land festhalten, dessen Grenzen möglicherweise auch Ende März noch dicht sein könnten. Doch wenn ich nicht nach Portugal kann, wohin fahre ich dann?

 

...

 

Wohin die Reise geht angesichts der aktuellen Entwicklungen?

Nächsten Freitag lest Ihr das komplette Kapitel!

 

 

 

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